Wanderlatein
Beim Wandern muss man sich auf den Wanderleiter und die Kameraden verlassen können. Es muss klar sein, was Sache ist, ohne Wenn und Aber. Gehen Sie den Instantkurs in Wanderpsychologie durch, und Sie dekodieren die gebräuchlichsten, gut gemeinten Weisheiten und kleinen Lügen mit dem Lächeln des Erfahrenen.
"Am Weg hat es sicher Trinkwasser."
Möchten Sie, verständlicherweise, nur die notwendige Menge Wasservorräte aus dem Tal auf den Berg hoch schleppen, "beschliessen" die übrigen Teilnehmer oft spontan, man fände am Wege sicher Tranksame. Dies ist alles andere als eine 'saftige' Lüge. In Übergangszeiten ist es eben noch oder schon so, dass die Alpwirtschaft geschlossen, die Wasserzufuhr zum Brunnen wegen Frostgefahr entleert, die Quelle gefroren oder versiegt und das einzige Flüssige ein Ammoniakrinnsal ist. Füllen Sie Ihre Behälter doch lieber auf, wenn Sie sich nicht mit den 2% Wassergehalt der Trockenkekse begnügen wollen.
"Die Hütte ist immer offen!"
Wird zu Beginn der Wanderung auf die vorsichtige Frage nach dem Hüttenschlüssel im Brustton der Überzeugung geantwortet, "Die Hütte ist immer offen!", dann sollten Sie während des Aufstiegs über Alternativen nachdenken. Entweder hat der besitzende Verein eben erst die Abläufe geändert, die Hütte wird gerade über drei Sommer umgebaut oder der ebenerdig liegende Zugang an der Längsseite ist im Schnee nicht lokalisierbar. Weder GPS noch LVS helfen hier, nur die Schaufeln, welche in der Hütte stehen! Sie können Ihre Arme nun je nach Präferenz zum Freischaufeln oder zum Schneehausbau einsetzen.
"Gamaschen brauchts heute sicher nicht!"
Anfänger sollen wissen, dass reife Wanderer in Übergangszeiten Gamaschen mitführen, die sie beispielsweise anziehen um Altschneefelder trockenen Fusses zu queren. Ob Bedarf besteht, wird in der Gruppe diskutiert, und das Ergebnis lautet in aller Regel: "Gamaschen brauchts heute sicher nicht!" Eine berüchtigte Wanderlüge, die jedoch tatsächlich kurze Beine hat. Wenn Sie erst einmal zwischen den Legföhren bis zum Anschlag in die Schneedecke eingebrochen sind und der Schnee beim Herausziehen des Beines zwischen Bergschuh und Socken eindringt und dort sofort schmilzt, schützt Sie keine noch so wasserundurchlässige, dampfdiffusionsoffene Membran (in Dialekt: Gore-Tex).
"Lange müssen wir die Skis nicht tragen!"
Variante: "Dafür zahlt sich die Abfahrt dann voll aus!"
Hören Sie dies als Skitourengänger beim Start, so liegen Sie mit der Annahme ziemlich richtig, mit geschulterten Tourenskis etwa 800 m im Wald auf überfrorenen Wurzeln und Steinen und die restlichen 183 m bis zum Gipfel im Bruchharsch aufsteigen zu dürfen. Fahren Sie die 183 m anschliessend bewusst und mit Genuss hinunter, damit sich die Abfahrt voll auszahlt, bevor Sie dann - Sie rechnen richtig - die Skis wieder 800 m zu Tale tragen dürfen.
"Das steilste Stück haben wir hinter uns!"
Eine gefährliche, wenn auch gern gebrauchte Wanderlüge, wenn ortsunkundige Kameraden mit auf der Wanderung sind. Die anderen schon ziemlich hechelnden Teilnehmer atmen freudig durch, vergeuden ihre letzten Kraftreserven und erwägen beim nächsten Steilhang, ihren verlogenen Kameraden über die Kante zu stossen.
Dies ist noch längst nicht alles, möchten Sie ...
mehr Latein?
"Wir sind gleich da!"
Kommt Ihnen der Satz "Wir sind gleich da!" zu Ohren, sollten Sie stutzig werden. "Wir sind gleich da!" bedeutet in Wirklichkeit, dass man in 60-90 Minuten oder nach 400-700 Höhenmetern da sein wird und gefälligst mit Motzen, Gnaunzen, Quengeln, Mosern, Nörgeln und ähnlichen Lautäusserungen des Missfallens über den Tourenverlauf aufhören solle. "Wir sind gleich da!" ist die wichtigste, meist benützte Wanderlüge. Die ebenso oft zu hörende Variante "Wir sind gleich oben!" meint eigentlich, oben auf dem folgenden kurzen Flachstück vor dem nächsten Steilhang.
"Ich habe das leichter in Erinnerung"
Am Morgen noch hiess es "Das schaffen wir locker" und nun hat der Wanderleiter die Tour "leichter in Erinnerung". Tatsächlich hat er nur mehr eine leichte Erinnerung an die Tour in den frühen 80er Jahren als er auch noch leichter war, und hat für heute weder eine Karte studiert noch mitgenommen. Wenn er dann bei der Weggabelung beschwörend argumentiert "Hier war ich auch schon mal!", kann dies bedeuten, dass "hier" ein weiträumiger Begriff ist, es damals keinen Nebel hatte, die Wegumlegung jüngeren Datums ist und nun einer den Anschein einer Ahnung erwecken muss.
"Und das da hinten ist der Mont Blanc."
Varianten: "… die Jungfrau, ...der Gran Paradiso, …der Grossglockner."
Endlich droben auf dem Gipfel. Der richtige Ort und die richtige Zeit für eine der schönsten Wanderlügen überhaupt. Die Wahrheit ist: Ich habe keine Ahnung, aber der Berg ist hoch und es hat Schnee darauf, könnte also sein. Die Lüge ist ohne Risiken und Nebenwirkungen für die Teilnehmer, nicht jedoch für den Wanderleiter. Seine Glaubwürdigkeit erleidet Kratzer, sobald der achtjährige Knirps die App "Peak Finder Alps" auf den Gipfel richtet. Da hilft nur noch schneller sein oder die Aussage sofort relativieren.
"Der Regen hört gleich auf!"
Variante: "Da hinten machts schon auf!"
Nachdem das bedeutendste Thema am Berg das Wetter und nicht etwa die Schönheit der Knabenkrautgewächse oder die unaufgeregte Steinwildkolonie ist, lautet eine weitere wichtige Wanderlüge "Der Regen hört gleich auf!" oder "Da hinten machts schon auf!" Inzwischen durchschauen Sie diese Lüge wohl sofort. Sie wissen: Es hört niemals gleich zu regnen auf, bis man erst einmal nass ist, und es macht gerade dann auf, wenn man tropfnass in der kalten Hütte angekommen ist.
"Es hat dann sicher noch genug Platz."
Hat der Hüttenwart bei der telefonischen Reservierungsanfrage ohne Notierung Ihres Namens und Ihrer Telefonnummer die Instant-Aussage gemacht "Kommen Sie nur, es hat dann sicher noch genug Platz", dann sollten Sie sich jetzt nicht wundern, Ihren Schlafsack wegen überfüllter Hütte unter einem Esstisch ausrollen zu müssen, wenn dann der Letzte den letzten Schoppen endlich intus hat, also gerade wenn die Ersten zum Frühstück erscheinen.
"Heute Nacht schlafen wir nordisch!"
Hervorragend! Ohne Schlafsack und Seiden-Inlay bleibt mehr Platz im Rucksack. Die komfortable Hütte ist dank einer grösseren Keglergruppe mehr als gut belegt, und es heisst leider, sich mit dem weniger komfortablen Winterlager anzufreunden. Die Freundschaft mit den harten, engen Kojen, dem spürbaren Luftzug und den Restbeständen an Wolldecken aus der Zwischenkriegszeit (bräunlich-gräulich, mit Pruritus-Potenzial und rotem Querstreifen, diesen aus hygienischen Gründen bitte immer zum Kopfende drehen) will jedoch nicht so recht aufkommen. Nordisch ist heute Nacht nur das Klima und während des Hautkratzens zwischen 22 Uhr und 6 Uhr treten Sie vor die Hütte und legen unter dem Sternenhimmel das Gelübde ab, wenigstens die 120 g Seidenschlafsack künftig nie mehr, niiiieeee mehr, zu Hause zu lassen.
"Ich habe noch nie geschnarcht!"
Sie wissen gleich um die brandschwarze Lüge: Der das sagt, ist der Einzige, der das auch glaubt. Sie können nun ebenso gut die Nacht durch "Mensch ärgere dich nicht" spielen oder die Jahrbücher des Schweizerischen Alpenclubs lesen - mit Jahrgang 1864 gehts los!
"Ab jetzt gehts nur noch bergab."
Es bekommt Ihrer Stimmung gut, wenn Sie aus dem Satz "Ab jetzt gehts nur noch bergab" heraus hören, dass es im restlichen Tagesverlauf in der Tendenz eher bergab als bergauf geht. Auch diese Wanderlüge ist gut gemeint. Sollten Sie die Aussage nämlich wörtlich nehmen, gehts nur mit Ihrer Stimmung bergab.
"Besonders schwer wars eigentlich nicht."
Und zum Abschluss der Rückblick auf die lange, anstrengende Wanderung. Die letzte klassische Wanderlüge wird von Teilnehmern benutzt, die ihre zu hause gebliebenen Kameraden gerne mal so richtig leiden sehen wollen. Erhalten Sie jemals auf Ihre Frage nach Gefährlichkeit oder Anspruch einer Tour zur Antwort: "Besonders schwer wars eigentlich nicht.", dann, bitte, machen Sie sich auf das Zweitschlimmste gefasst! Sollten Sie als Variante sogar das Fazit "Obwohl, da muss man dabei gewesen sein!" hören, dann rechnen Sie – genau! - mit dem Schlimmsten. Es war die Hölle und einmal dabei gewesen zu sein, ist mehr als ausreichend.
Nun wohl doch...
zum Flehen des Wanderers?
Flehen des Wanderers
Allmächtiger, schau herab auf deine demütigen und dir gehorsam dienenden Tippelbrüder und -schwestern, die verurteilt sind, im Schweisse ihres Angesichts auf dieser topografisch suboptimal gebauten Erde umher zu irren, Fotos zu knipsen und sich mit Souvenirs einzudecken.
Wir flehen zu dir oh Herr, lege deine schützende Hand über unsere Rucksäcke und Ausrüstung und verhindere, dass morgens ein schlaftrunkener Trottel seine Holzknebel und Stinkstiefel mit unseren Karbonstöcken und Hightech-Schuhen verwechselt. Vor allem aber verschone uns nachts vor den veilchenblauen Schnarchtüten und den nachtaktiven Plastiksack-Fetischisten.
Verleihe uns die Kraft, alle Wasserfälle, Naturparks und Aussichtspunkte zu besichtigen, die im Programm als Pflicht aufgeführt sind. Und sollten wir vielleicht einen Hügel auslassen zu Gunsten eines Mittagschläfchens im Grase, so hab' Gnade mit uns, denn unser Geist ist willig und die Muskeln sind genauso schwach.
Bringe uns in urige und preiswerte Berghäuser, wo der WIFI-Code von Weitem sichtbar ist, wir als Erste bedient werden, das Essen ausgezeichnet, das Schänkpersonal attraktiv und der Alkohol im Preis inbegriffen ist.
Führe unsere Frauen und Freundinnen nicht in Versuchung, Kioske, Devotionalienstände, Ramschläden und dergleichen aufzusuchen und schütze sie vor dem Kauf unschicklicher Kleidungstücke, die sie weder tragen noch sich leisten können. Und passiert es trotzdem, so vergib ihnen nicht, denn sie wissen sehr wohl was sie tun.
Hingegen vergib uns, oh Allwissender, unsere einfältigen Fragen, so wie wir auch dem Wanderleiter seine banalen Antworten und fehlenden Ortskenntnisse vergeben.
Und, auch wenn wir der Unterschiede wegen auf exotischen Gebirgsmassiven und in Tälern mit unaussprechlichen Namen herum irren, lass es bitte überall genauso sein, wie zu Hause.
Gib uns täglich den Sonnenschein, damit unsere Fotos einzigartig werden, des Weiteren breite Netzverbindung, eine Steckdose und unseren täglichen Bedarf an Likes. Und wenn die Wanderreise vorüber ist und wir zu unseren Lieben zurück kehren, dann verleihe ihnen die nötige Kontenance, unsere 6400 digitalen Meisterwerke gebührend zu würdigen, des Weiteren unseren Fakes and Facts von atemberaubenden Erlebnissen, spottbilligen Schnäppchenkäufen und kolossalen Leistungen zuzuhören, damit unsere Leiden als Wanderer nicht ganz umsonst gewesen sind.
Darum flehen wir dich an bis ans Ende unserer letzten Wanderung. Amen.
Sie sind nun gewappnet, Ihnen macht keiner mehr etwas vor. Es gibt selbst redend noch viele der Fürbitten, Wanderweisheiten und -lügen, die Sie jedoch nicht alle zu kennen brauchen. Auf die Einstellung kommt es an: Rechnen Sie immer, dass es schlimmer wird, als Sie sich vorstellen können, und Sie sind auf der sicheren Seite. Sie brauchen auf der nächsten Wanderung den anderen Teilnehmern auch nicht gerade das ganze Wanderlatein zu übersetzen. Eigene Erfahrungen wirken allemal nachhaltiger als Doziertes. Sie mussten schliesslich auch lange leiden, bevor Sie Wanderlateinisch verstanden.
Sollte Ihnen eine unerwähnte Wanderweisheit oder -lüge zu Ohren kommen oder eine dringende Fürbitte einfallen, tun Sie uns diese doch bitte kund, damit wir sie umgehend in unsere Wanderungen und Anflehungen einbauen können.